Text von Ralf-Michael Seele


Bildsam gewordener Mythos

Mit Zeichnungen, Druckgrafiken und Gemälden entführt Burkhard Pfister den Betrachter in die Welt der Mythen. Bücher sowie die Verbindung von Text und Illustration hatten es ihm schon seit der Kindheit angetan. Ein prägendes Erlebnis war ihm der 1878 erschienene didaktische Jugendroman des deutschen Naturforschers und Schriftstellers David Friedrich Weinland. Das Vermischen wissenschaftlicher Erkenntnisse, literarischer Fantasien und figürlich-erzählerischer Illustrationen zur GESCHICHTE der Menschheit und die sich daraus ergebenden Widersprüche öffneten Burkhard Pfister ein Forschungsfeld, auf dem er bis heute arbeitet. In seinen Bildern verbindet er beständig Vorgefundenes und Historisches mit selbst Erfundenem. So zeigte er mir u.a. seine ganz früh entstandene umfangreiche Serie von Zeichnungen zur Kostüm-GESCHICHTE der Menschheit sowie Schlachtenszenen mit kleinteilig ineinander verwobenen Menschenleibern. Mit 18 Jahren bearbeitete er die Odyssee in 50 Kugelschreiberzeichnungen. Seine Liebe zum Detail, zum Erzählerischen zieht sich wie ein roter Faden durch das Lebenswerk, ebenso die Verbindung und schließlich Verwandlung von Vorgefundenem in Eigenes.

Schwere Zeichen gewichtiger GESCHICHTE

Von Kindheit an interessiert den Künstler die Menschheits-GESCHICHTE und die darüber erzählten und überlieferten Geschichten in Form der Mythen. In ihnen finden sich weltweit immer wieder ähnliche bis gleiche Beschreibungen. GESCHICHTE dient als Rahmenhandlung für Geschichten – Geschichten gebären GESCHICHTE. Er illustrierte das Gilgamesch-Epos – ein Werk aus der akkadischen und sumerischen Literatur, die Odyssee – ein dem griechischen Dichter Homer zugeschriebenes Epos und die Atriden – ein griechischer Tragödienstoff. Diese überlieferten Erzählungen – oder ist es literarisch verarbeitete GESCHICHTE? – verwandelt Burkhard Pfister in Bildern und versetzt sie meist in die Gegenwart. So entdeckte er in den Schilderungen von wechselnden Kriegsbündnissen Parallelen zwischen den Atriden und der Vor-GESCHICHTE der beiden Weltkriege. Wenn es sich um Urmuster menschlichen Verhaltens handelt, kann er die Überlieferungen nicht auch in moderner Bild-Sprache verfassen? Oft sucht er Bilder in der Gegenwart, die auf den jeweiligen Mythos passen. Indem der Künstler persönliche Bezüge findet, verwandelt er die Geschichten tendenziell in seine eigenen Dramen und Tragödien. Das Ferne wird nahe, des Fremde wird zum Eigenen, das Gestrige wird Gegenwärtig. Wie durch ein Ritual erwacht etwas zum Leben, verwandeln sich trockene Worte in flirrenden Atem und magische Zeichen. Der Mythos wird immer wieder neu geboren – in diesem Augenblick, an diesem Ort. Die Kunst dient dabei als Medium, die Seele als Kraftquelle. Und vielleicht ist noch etwas anderes mit im Spiele?

Die detaillierten Originaltexte kommen der Vorliebe des Künstlers für die zeichnerischen Kleinigkeiten entgegen. Oft nutzt er die Wirkung der Schwarz-Weiß-Umkehrungen zwischen Text und Grund, setzt rechteckige oder runde Sprechblasen vor die Figuren. Dieses Formenrepertoire bezieht Burkhard Pfister ebenso wie die Schrift in die gesamte Blattgestaltung ein. Die Dorre der Sprechblasen verwandelt er teilweise in diagonale Kompositionslinien. Optisch stechen zwischen den oft ornamentalen Text-Bild- Kombinationen das Blattformat füllende monumental anmutende Figuren, Köpfe und Dekorformen hervor. Manche der kräftigen Tusche- und Federzeichnungen wirken aufgrund der seitengroßen Panelwahl starr und sperrig. Damit entspricht die Form der inhaltlichen Schwere des Textes.

Vom geschriebenen Mythos zum gezeichneten Bild

Für den Künstler sind die ewigen Themen der Mythen spannend, die sich immer gleich durch die Welt-GESCHICHTE fortweben und insofern auch modern erscheinen. Er steht vor der Frage, in welcher kulturhistorischen Raum-Zeit er seine Interpretationen der Mythen stellen soll, welche geografischen Merkmale, technisch-architektonischen Kulissen und Details, welche Kleidungsstile in seinen Bildfindungen Eingang finden. Von irgendeiner Grundannahme muss er ausgehen.

Der Betrachter ist gut beraten, die Bilder von Burkhard Pfister nicht als Illustrationen historisch belegter Erkenntnisse anzusehen. Ich kenne unterschiedliche Theorien, Mythen zu definieren sowie zeitlich und geografisch zu verorten. Der Künstler muss jedoch eine Entscheidung für die Wahl seiner Formen treffen. Jeder Mensch lässt sich bewusst oder unbewusst beim Beurteilen jedes Sachverhalts von Grundannahmen leiten, die von außen betrachtet alle relativ gleichwertig sind, wobei die im Laufe seines Lebens jeweils zuerst verinnerlichte Grundannahme als Erstinformation und Primärprägung zum willkürlichen Maßstab genommen wird für alle nachfolgend bekannt werdenden. Wer in der Kindheit gelernt hat, dass sich z. B. die Odyssee in der Region des heutigen Griechenland abspielte, wird sich schwer tun, sie nach Jahren als eine Überlieferung anzuerkennen, deren GESCHICHTE sich einst in Nordeuropa ereignete und lediglich von einwandernden Nordvölkern in die Mittelmeerzone mitgebracht wurde.

Als bildender Künstler hat es sich Burkhard Pfister zur Aufgabe gemacht, vorrangig nicht die wahre GESCHICHTE zu erforschen, sondern schriftsprachlich überlieferte Erzählungen in eine Bild-Geschichte zu übertragen und sich dabei als Zeichner und Maler über Punkte, Linien, Formen und Farben auszuleben. Den Künstler interessieren die in den Mythen beschriebenen Gefühle, Motive, Handlungen. Kunst dient neben dem Traum der Seele als Sprache. Da die Seele nur im Augenblick lebt und weder Raum noch Zeit kennt, liegt es nahe, die mythischen Geschichten in die Gegenwart zu verlegen, sie in heutige Alltagsformen zu kleiden. Aus dieser zeitlosen Perspektive heraus darf er die Mythen auch in beliebige Vergangenheiten projizieren, wenn ihn die jeweiligen kulturellen Muster ästhetisch oder thematisch reizen. Letztlich stehen für das bildkünstlerische Gestalten und Betrachten gleichermaßen die äußerlichen Formen gleichwertig neben den ihnen entsprechenden Gedanken, Gefühlen und Gegenständen. Je nach Standpunkt können die Formen oder die Inhalte bedeutsamer werden. So wie der Mythos als literarische Kunstform zu einem Eigenwert gerinnt, so verwandeln sich die Bild-Geschichten von Burkhard Pfister zu tendenziell abgetrennten Kunstwerken. Als einen neuen konzentrierten Minikosmos kann sie der Betrachter nunmehr erfahren, genießen, aneignen, weiterformen …

Mythos und Logos – zwei Seiten des Mensch-Seins

Ich zerlege den ganzheitlichen Kunstprozess hier nur methodisch in kleinere, nachvollziehbare Teile. Und ich treffe mit meinem Schreiben als Ausdruck meines Nachdenkens naturgemäß auf die Paradoxie zwischen Denken und Schauen, Wahrnehmen, Fühlen – zwischen Wissenschaft und Kunst.

Jeder Mensch verfügt über zwei Gehirnhälften. Beim Rechtshänder ist die linke Gehirnhälfte für das Denken verantwortlich und die rechte für das Fühlen und Wahrnehmen. Beide Teile sind durch den Gehirnbalken (Corpus callosum) verbunden, wodurch sich physiologisch ein ausbalancierter Wechsel zwischen beiden Seins-Weisen ermöglicht. Wird der Gleichklang beider Hirnhemisphären und damit die beiderseitige Korrektur dauerhaft gestört, entwickeln sich Extremisten. Durch die GESCHICHTE der Menschheit zieht sich ein ewiger Kampf zwischen den Rationalisten bzw. Separatisten und den Gefühlsmenschen bzw. Holistikern (ganzheitlich Wahrnehmenden).

Jeder Gehirnhälfte entspricht eine eigene Form der Welt- und Selbst-Beschreibung. Die rechte Hälfte gebiert den Mythos mit dem Wort als bildhaft erzählende und sinnstiftende Rede. Er wirkt übergeschichtlich, affektiv, bedient sich der Imagination und drückt Weisheit aus. Hier fühlt sich auch die Kunst zu Hause. Die linke Hemisphäre arbeitet mit dem Logos. Dieser benutzt das Wort als wissenschaftsmethodische Rede, bezieht sich auf beweisbare Fakten, wirkt kognitiv über Abstraktionen und drückt Wissen aus. Hier vollzieht sich die Wissenschaft. Beide Formen der Aneignung des Lebens halte ich für gleichwertig und existentiell notwendig. Erst beide zusammen betrachtet vollenden das Mensch-Sein. Sowohl individualgeschichtlich als auch gesellschaftshistorisch lässt sich ein Wechseln der Vorherrschaft einer der beiden Seins-Weisen feststellen. In der Kindheit überwiegt das Fühlen, in der frühen GESCHICHTE das mythische Bewusstsein. Ich beobachte hoffnungsvoll, wie in vielen Bereichen des Lebens die Seele verstärkt um ihre Rechte kämpft, z. B.: Aus verschiedenen Gründen greifen Wissenschaftler zur Kunstform des Romans, um ihre Thesen in die Welt zu bringen. Die Kunst von Claudia Hentrich und Burkhard Pfister zu fördern oder sich ihrer schöpferisch zu bedienen, das sind mögliche Ausdrucksformen dieses seelischen Aufbegehrens.

Mythos, Kunst und Seele

Nun möchte ich den Leser wieder aus der Region des Denkens entlassen und ihn zurückwerfen in die magische Sphäre der Mythen und Bilder. Das Nachvollziehen oder Neuschöpfen durch die reine Anschauung sowie das intensive Einfühlen in die Wort- und Bild-Geschichten lassen die Seele zum Schwingen bringen. Erst wenn der Verstand ruht, oder zumindest nicht mehr vorherrscht, kann sich der Mensch mittels der Kunst seinem wahren Wesen bewusst werden. Dann erst beginnen die Mythen und Bilder als Geheimnis, als Wunder, als tragender Sinn zu strahlen und in unendlich vielen Farben, Nuancen und Feinheiten zu schillern. Mit dem Gemüt seines inneren Kindes vor dieser Kunst stehend, wird der Mensch Teil der vorgetragenen und gemalten Geschichten. Er lässt sich bezaubern, verführen, sich selbst in einem magischen Spiegel begegnen. Der Mensch wird ganz Mythos, der Mythos ganz Mensch. Grenzen verflüchtigen sich, die Seele des Einzelnen taucht ein in die mythische Ganzheit, All-Einheit des ewigen Seins …

Ralf-Michael Seele, August 2017.
Kunstwissenschaftler
Gründer ● Leiter der Städtischen galerie ada Meiningen